März 31, 2022
Jugendstil in der Rigaer Alstadt
Meist wird behauptet, dass es in Riga nur eine Jugendstilstraße gibt – die Alberta Straße. Doch Riga birgt rund 800 Jugendstilbauten! Und einige sind auch in der Altstadt zu finden.
Autor: Kristine Bähr-Gurtiņa
Meist wird behauptet, dass es in Riga nur eine Jugendstilstraße gibt – die Alberta Straße. Doch Riga birgt rund 800 Jugendstilbauten! Und einige sind auch in der Altstadt zu finden.
Was ist denn eingentlich Jugendstil? Das deutsche Wort verrät es quasi schon. Auch in anderen Sprachen weisst es deutlich auf etwas Neues hin: Französisch – Art Nouveau, Spanisch – Modernisme, Russisch – стиль модерн, Italienisch – Stile Liberty. Ein junger, energischer Mensch strebt nach etwas Neuem, Unentdecktem, Rebellischem. Der alten Generation möchte man zeigen, dass das Neue besser sein kann, auch indem man das Alte ganz aufgibt. Im 19. Jahrhundert bestimmte die Eklektismus den Stil der Architektur: schon durchlebte Stilrichtungen wurden zum neuen Leben erwegt. Aus Altem wurde Neues geschaffen – die Neogotik, die Neorenaissance, der Neobarock. Dem Stil einfach ein „neo“ (griechisch für neu) vorne dransetzten – nein, das reicht nicht! Wir müssen etwas völlig Neues schaffen! Die ideale „Bühne“ ist die Jahrhundertwende. Das alte Jahrhundert kehrt sich dem Ende zu und ein neues beginnt! Und der JUGENDSTIL steht im Rampenlicht.
Was hat der Jugendstil verändert? Was war so innovativ? Was war neu und modern? Der Kunstkritiker und Publizist Jānis Asars hat es hervorragend formuliert: „… es ist notwendig, von innen nach außen zu bauen, um das Innere vollständig nützlich und schön zu machen, und dann erst muss das Äußere des Hauses auf diese Ordnung gestaltet werden.“ Ausschlaggebend für den Eklektismus war die Symmetrie der Fassade – ob für den Innenraum ein Fenster nötigt war oder nicht, spielte keine Rolle. Die Symmetrie der Fassade brauchte die Fenster. Schauen Sie sich eines Tages die Fassaden in den Straßen der Altstadt von Riga an und Sie werden sogar Gebäude mit aufbemalten Fenstern sehen – die Symmetrie ist gewährleistet! Das änderte sich mit dem Jugendstil.
Ein wesentliches Merkmal des Jugendstils, Inspirationsquelle und verbindendes Element in ganz Europa war die Natur! Die Motive wurden nicht nur in der heimischen Flora und Fauna gesucht, sondern auch in fernen Ländern und in der Welt fantastischer Wesen sowie in der Mythologie. Das Thema Natur kam in Mode, seit Charles Darwin seine Evolutionstheorie vorstellte. So ist es nicht verwunderlich, dass wir in Riga sogar Affen auf einigen Jugendstilgebäuden sehen werden. Es wird jedoch auch angenommen, dass diese Verherrlichung der Natur der Gegensatzt zur industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts darstellen sollte. Ein weiteres sehr wichtiges Merkmal des Jugendstils in Riga ist das „Lettische“.
Riga wurde 1201 von Deutschen gegründet und war bis ins 19. Jahrhundert noch eine sehr deutsche Stadt. Dies änderte sich um die Jahrhundertwende, als immer mehr Letten, die aus der Leibeigenschaft entlassen wurden, vom Land in die Stadt strömten. 1868 waren 42,9 % der Stadtbevölkerung Deutsche, 25,1 % Russen und nur 23,6 % Letten. Das änderte sich 1913, als Riga bereits über eine halbe Millionen Einwohner hatte und die ethnische Zusammensetzung sich deutlich verändert hatte. Nun waren die Deutschen mit 13,3 % die Minderheit, darauf folgten die Russen mit 19,3 % und die überwältigende Mehrheit waren Letten mit 42,2 % (1). Und diese ethnische Veränderungen fand zeitgleich mit dem aufblühen des Jugendstils in Riga statt. Riga wird immer mehr “lettisch” – die Auftraggeber für den Bau neuer Gebäude sowie die Architekten stammten nun nicht nur aus der privilegierten deutschen Klasse, sondern auch Letten waren tüchtig am Werk. Der Bau in der Jauniela Straße 25/27 wurde von einem Letten beauftragt! Ludvigs Neiburgs – Maurermeister und Bauunternehmer.
Genug vom Jugendstil geredet. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben! Hier eine Route des Jugendstils in der Altstadt von Riga.
Jauniela Street 25/27 – Hotel und Restaurant Neiburgs
1903, Baltendeutscher Architekt Wilhelm Ludwig Nikolai Bockslaff
Wenn wir alle von W. Bokslaff entworfenen Gebäude in eine Reihe stellen würden, wären sie alle sehr verschieden. Um nur einige zu nennen: Er ist Autor eines Schulgebäudes (heute Akademie der Künste in Riga), eines Jagdschlosses, 2 Wassertürmen und 2 Kirchen. Stellen Sie sich vor die Fassade in Jauniela, heben Sie den Kopf und ganz oben sehen Sie eine Sphinx, die sich an den Turm lehnt! Unter der Sphinx ein Gesicht mit unheimlicher Grimasse. Werfen Sie nun einen Blick auf den Haupteingang - jeder eintretende Gast wird von einer großen Maske und einer strahlenden Sonne begrüßt. Führen Sie den Blick etwas höher, rechts und links lächelnde Gesichter. Weiter rechts unter den beiden Balkonen Gesichter mit unheimlichen Grimassen, die unter Pflanzenornamenten versteckt sind. Verweilen Sie etwas länger und Sie werden immer mehr faszinierende Details für sich entdecken.
Beigen Sie nun in die Krāmu Straße und dann links in die Tirgoņu Straße.
Tirgoņu Straße 4
1900, Deutsche Architekten Heinrich Scheel und Friedrich Scheffel
H.Scheel wurde in Hamburg geboren und erhielt seine berufliche Ausbildung in St. Petersburg. F. Scheffel studierte in Deutschland an der Bauschule Ekernferde und erwarb 1899 das Baurecht in St. Petersburg. Von 1900 bis 1904 arbeiteten beide gemeinsam im Baubüro von H. Scheel in Riga. Die ausdrucksstarken Fenster in den ersten beiden Stockwerken weisen auf den Bedarf an Geschäften zu Beginn des Jahrhunderts hin. Die Bevölkerung der Stadt wächst, die industrielle Revolution produziert große Warenmengen und Ladenbesitzer brauchen helle und große Räume. Eines der Merkmale dieses Jugendstils sind die Metallarbeiten um die großen Fensterrahmen.
Gehen Sie weiter die Straße entlang und biegen dann rechts in die Šķūņu Straße.
Šķūņu Straße 10/12 – Detmann’s Haus
1902 die selben Architekten des ersten Gebäudes
Ein hervorragendes Beispiel für den frühen Jugendstil, als die Fassaden mit Pflanzenmotiven und Ornamenten übersät waren. Die Fassade dieses Gebäudes weist eine weitere Besonderheit des Jugendstils auf – geschwungene Linien. Sogar die Fensterbänke haben eine geschwungene Linie! Schauen Sie nun nach ganz oben – vom Dach schaut ein Wolf auf Sie herab. Oder ist es ein Hund? Oder vielleicht doch ein Werwolf? Betrachten Sie das Gebäude auf der rechten Seite. Ein hervorragendes Beispiel für ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mit symmetrisch rhythmisierten Fenstern – aber was ist das denn? Die letzten Fenster sind auf die Fassade gemalt und nicht echt!
Gehen Sie weiter die Šķūņu Straße hinunter, die später in die Skārņu Straße übergeht. Gehen Sie bis zur Kreuzung mit der Audēju Straße und biegen Sie links in diese ein.
Audēju Straße 7 – Grosset’s Haus
1899, Architekten Alfred Aschenkampff und Max Schwerwinsky
Dies gilt als eines der ersten Jugendstilgebäude in Riga. Das Gebäude wurde nicht von Grund auf neu gebaut, sondern umgebaut, und diese Arbeiten wurden vom Buchverleger Alexander Grosset in Auftrag gegeben. Schauen Sie nach oben zum Gesims – interessante Metallteile und ausdrucksstarke Metallgeländer für das obere Dachgeschoss. Betrachten Sie die Fassade und Sie werden die für den frühen Jugendstil so charakteristischen Linien, Kreise und Pflanzenornamente entdecken. Das Gebäude hat eine helle grünliche Farbe, die sehr typisch für Gebäude der Jugendstilzeit ist.
Jetzt geht es ein Stück weiter die Audēju Straße hinunter und dann links in die Kalēju Straße. Schon von Weitem erblicken Sie das nächste Prachtgebäude.
Jāņa Straße 23
1903, Architekt Jüdischer Abstammung Paul Mandelstamm
Der beeindruckende Eckerker begrüßt jeden Besucher - eine Kastanie, weiße Blüten und eine beeindruckende Laterne. Heben Sie Ihre Augen ein wenig höher und eine goldene Sonne wird auf Sie scheinen. Die Fassade verwendet sehr charakteristische Merkmale des frühen Jugendstils - Polychromie und verschiedene Veredelungsmaterialien. So viele Farben kommen zum Einsatz: das typische Grün, Backstein- und Dachverkleidungen in leuchtendem Rot und helle Linien umschließen das Gebäude. Ein weiteres charakteristisches Merkmal des Jugendstils sind die vertikalen Lisenen – zwischen den Fenstern drei Linien, die mit Kreisen enden.
Gehen Sie weiter die Kalēju Straße entlang und werfen Sie einen Blick auf die Holztür dieses Gebäudes!
Biegen Sie rechts in die Teātra Straße ein und gehen Sie bis zum Haupteingang des Kempinski Hotels. Diesmal werden wir uns nicht dieses Hotel ansehen, aber drehen uns um 180 Grad, um das Gebäude an der Ecke der Straßen Teātra und Vaļņu zu betrachten.
Teātra Straße 9
1904, Architekten Heinrich Scheel und Friedrich Scheffel
Ein wunderschönes und prächtiges Gebäude mit vielseitiger Dekoration, an dem man sehen kann, dass die Architekten die alten Stile - Renaissance und Barock - noch nicht ganz aufgegeben haben. Auffällige Merkmale des Jugendstils sind jedoch das Eckfenster im 5. Stock in Form eines Schlüssellochs und das dekorative Mosaik darum herum. Dieses Gebäude hat keinen Turm, sondern einen Globus, der von 3 Atlanten gehalten wird. Dies wurde von dem berühmten Rigaer Bildhauer August Folz geschaffen - gebürtiger Magdeburger! Heute ist der Bewohner des schönen Gebäudes die italienische Botschaft.
Biegen Sie rechts in die Vaļņu Straße ein und gehen Sie bis zur Kreuzung mit der Kaļķu Straße.
Kaļķu Straße 15
1914, Lettischer Architekt Jānis Alksnis
Auf den ersten Blick verbindet man dieses Gebäude vielleicht nicht mit dem Jugendstil. Angesichts des Jahres, dass auf der Fassade vermerkt ist, gibt es jedoch keinen Zweifel mehr. Dieses Gebäude ist ein gutes Beispiel für das Ende des Jugendstils, denn leider wurde der Stil durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Nach 1910 kehrten die Architekten zu den Klassikern zurück und es entstand der Neoklassizismus, der am häufigsten für monumentale Gebäude wie Banken verwendet wurde. Dieses Gebäude wurde für die Riga Pardaugava gegenseitige Kreditbank gebaut und ist eines der ersten Gebäude in Riga, das mit eine rmonolithischen Stahlbetonskelettkonstruktion erbaut wurde.
Gehen Sie ein Stück weiter die Vaļņu Straße entlang, dann links in die Zirgu Straße einbiegen und bis zur Kreuzung mit der Meistaru Straße gehen.
Meistaru Straße 10 – Das schwarze Katzen Haus
1909, Architekt Friedrich Scheffel
Jedem Gast in Riga wird die Legende der schwarzen Katze und Herrn Plūme erzählt. Allerdings erwähnen nur wenige, dass es sich um ein Jugendstilgebäude handelt. Stellen Sie sich vor die Fassade in der Meistaru Straße um das schöne Eingangsportal betrachten zu können. Von den Türmen schauen auf Sie zwei schwarze Katzen.
Biegen Sie links in die Mazā Smilšu Straße ein, nachdem Sie das Ende der Straße erreicht haben, biegen Sie links in die Smilšu Straße ein.
Smilšu Straße 8 – Bobrobw’s Haus
1902, Architekten Heinrich Scheel, Friedrich Scheffel
Vor mehr als 120 Jahren würde man hier noch vor alten Speichergebäuden stehen. In einigen engen Gassen der Altstadt von Riga kann man hier und da noch welche sehen. Der russische Kaufmann Ilya Bobrow, der ein Geschäft besaß, kauft hier ein Speichergebäude. Als sein Vermögen wuchs, bestellte er ein luxuriöses, repräsentatives Gebäude mit Geschäften im Erdgeschoss, Büroräumen im ersten Stock und Mietwohnungen in den oberen Etagen. Gehen Sie zu den Eingangstür en auf der Smilšu und auch auf der Aldaru Straße - wenn Sie das Gebäude nicht betreten können, werfen Sie zumindest einen Blick durch die Fenster und sehen Sie eine der schönsten Innendekorationen in Riga.
Bevor Sie weiter die Smilšu Straße entlang gehen, müssen Sie den Affen mit dem Baujahr des Hauses finden!
Weiter geht es entlang die Smilšu Straße Richtung Domplatz.
Smilšu Straße 2
1902, Lettischer Architekt Konstantīns Pēkšēns
Betrachtet man die Details der Fassade und es könnte fast scheinen, als wären Sie im Zoo – jede Etage birgt verschiedene Tiere: Hunde, Mäuse, Vögel, Schmetterlinge, Eulen, Eichhörnchen, Schafe, Wölfe und auf dem 2-stöckigen Erker ein Pfau - eine Symbol der Schönheit und des Selbstbewusstseins des Jugendstils. K. Pēkšēns ist einer der „Väter“ des Rigaer Jugendstils und heute ist seine ehemalige Wohnung an der Ecke der Straßen Alberta und Strēlnieku ein Jugendstilmuseum, das unbedingt jeder Gast und bestimmt auch jeder Bürger Rigas besuchen sollte. Die Wohnung ist wie eine Zeitreise zur Geburt des 20. Jahrhunderts.
https://jugendstils.riga.lv/eng/
Die Rigaerer halten die Architektur der Stadt für selbstverständlich, aber sind sie sich ihres Wertes bewusst? Und die Notwendigkeit, diese Schätze für zukünftige Generationen aufzubewahren? Wenn Sie mehr über den Jugendstil in Riga erfahren möchten und welche wichtigen Voraussetzungen dafür sorgten, dass Riga so reich an Jugendstil ist, biete ich einen Spaziergang durch den Jugendstil der Altstadt von Riga mit meinen Geschichten und Entdeckungen an.
Führungen in Riga Kristine Bähr-Gurtiņa Handy: +371 26305304 E-Mail: kristine.baehr@gmail.com Webseite: https://www.facebook.com/pastaigasriga Führungen in Englisch, Deutsch und Lettisch in Riga und im Baltikum. |
(1) Jānis Krastiņš Rīgas jūgendstila ēkas 2007. – Page 14