Februar 28, 2022
Das Neiburgs Haus im Leben von Vaira Vīķe-Freiberga (Präsidentin Lettlands 1999-2007)
Vaira Vīķe-Freiberga (1937) war von 1999 bis 2007 Präsidentin Lettlands. Unter ihrer Führung konnte Lettland die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO sichern und damit internationale Annerkenung und Sicherheit. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete sie als eine globale Führungspersönlichkeit.
Autor: Ieva Lesinska
Die Präsidentschaft von Vaira Vīķe-Freiberga hat ein bleibendes Erbe im Bewusstsein der lettischen Nation hinterlassen, aber nur wenige wissen, dass das Gebäude, in dem sich heute das Neiburgs Hotel und Restaurant befindet, eine interessante Rolle in ihrem Leben gespielt hat.
Das folgende Gespräch fand an einem schönen Herbsttag in einem der Apartaments in der sechsten Etage des Hotels statt. Die ehemalige Präsidentin wurde von ihrem Ehemann Imants Freibergs begleitet. Am Gespräch nahmen Kristīne und Katrīna Neiburgs sowie Katrīnas Sohn Ludvigs teil.
Kristīne Neiburga: Ich erinnere mich, wie wir verschiedene Geschichten zur Geschichte des Hotels gesammelt haben, und ein Verwandter von uns hatte gehört, dass Sie dieses Gebäude gut kennen. Darf ich Sie bitten, Ihre Erinnerungen mit uns zu teilen? Soweit ich weiß, haben Sie hier in den 1960er Jahren Ihre Verwandten besucht?
Vaira Vīķe-Freiberga: Ja, am 9. August 1969 betrat zum ersten Mal in der Geschichte ein Mensch den Mond, und ich war hier mit meinen Verwandten und habe es im Fernsehen gesehen.
Kristīne Neiburga: Sie waren ein kleines Mädchen, als Sie Lettland verlassen haben, sind aber zum ersten Mal während der sowjetischen Besatzung zurückgekehrt. Wie war das für Sie?
Vaira Vīķe-Freiberga: An jeder Ecke war jemand in Militäruniform. Es waren so viele, dass es erschreckend war. Es war der Höhepunkt des Kalten Krieges – 1956 wurde die Widerstandsbewegung in Ungarn unterdrückt, 1968 folgte der Einmarsch in die Tschechoslowakei – die Atmosphäre war beängstigend. Direkt nach Riga konnte man nicht fliegen, zuerst mussten wir nach Leningrad. Als das Flugzeug landete, kam ein Mann der von der Miliz oder dem KGB war. In einem grossen Beutel sammelte er alle Pässe ein. Ich erinnere mich, wie auch mein Pass hineinflog – plopp! In diesem Moment dachte ich: „Mein Pass ist mein Schutz als kanadischer Staatsbürger, aber jetzt habe ich ihn nicht mehr…“ Vor der Reise warnten mich die kanadischen Behörden: „Bei dieser Reise sind Sie auf sich allein gestellt. Die Sowjets halten Sie für auf ihrem Territorium geboren, also könnten wir uns nicht einmischen, wenn sie sich aus irgendeinem Grund entschließen würden, Sie zu verhaften.“ Also sind wir dieses Risiko mit unbehaglichem Herzen eingegangen.
Kristīne Neiburga: Soweit ich gelesen habe, war einer Ihrer damaligen Gründe für Ihren Besuch in Lettland Ihre wissenschaftliche Recherche zu lettischen Volksliedern - den Dainas.
Vaira Vīķe-Freiberga: Der Auslöser war die Expo-67, die in Montreal stattfand. Es gab einen Pavillon der Sowjetunion wo jede der 15 Republiken einen Austellungsplatz hatte. Gemälde waren ausgestellt, Musiker traten auf und Schriftsteller kamen zu Besuch. Ein toller Sommer für uns in Montreal. Dort trafen sich zum ersten Mal Exil-Letten aus Montreal mit Letten aus dem Heimatland.
Aber zurück zu diesem Gebäude… Wir sehen hier durch das Fenster den Dom, und ich erinnere mich, wie meine Mutter und ich während des Krieges dort Sonntags Gottesdienste besuchten. Mein Stiefvater kam manchmal mit, aber er zog es vor, auf dem Land zu angeln. In der Kirche saßen wir immer rechts vom Haupteingang.
Die Predigten langweilten mich, und während der Pfarrer redete, wanderte mein Blick immer auf die Buntglasfenster auf der rechten Seite, die im Krieg verloren gegangen sind. Besonders der Beichtteil störte mich, weil es hieß, wir müssten die Sünden, die wir in Taten, Worten und Gedanken begangen haben, büßen. Von Zeit zu Zeit tat ich Dinge, mit denen die Erwachsenen nicht zufrieden waren und für die ich Ärger bekam. Doch der Gedanke, dass jemand dort oben im Himmel meine Gedanken las und mich für jede dumme Idee die mir einfach nur mal einfallen würde bestrafen sollte, war entsetzlich. Denn das Denken ist doch ein harmloses Ausprobieren – dafür soll man wirklich bestraft werden?
Nach dem Gottesdienst kamen wir oft in dieses Haus, denn hier, im 6. Stock, wohnte der Onkel meines Stiefvaters – der Bruder seines Vaters mit seiner großen Familie - die Hermanovičs. Sie hatten zwei Kinder im Teenageralter - einen Sohn und eine Tochter. Während meine Mutter mit meiner Tante plauderte und Kaffee trank – wahrscheinlich Chicorée-Kaffee, da es Krieg war – ließ mich das Mädchen am Klavier herumalbern. Später scherzte sie, sie sei meine erste Klavierlehrerin gewesen.
Ich habe eine lebhafte Erinnerung an das Treppenhaus mit den gefliesten Böden dieses Gebäudes. Imants sagt, dass es zum sechsten Stock 104 Stufen sind – er hatte sie bei seinem Besuch hier gezählt. Als ich hier kurz vor meiner Präsidentschaft war, waren diese Stufen praktisch, weil ich beim Auf- und Absteigen der Treppe 15 Pfund abgebommen hatte. Aber als Kind wurde ich beim Treppensteigen müde, also blieb ich auf halbem Weg stehen und schaute aus dem Fenster. Ich war so klein, dass ich auf Zehenspitzen stehen musste um über die Fensterbank zu sehen, aber die Straße war so eng, das ich direkt in die Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes schauen konnte. Das ist meine früheste Erinnerung. Ich muss ungefähr vier gewesen sein. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an den Giebel des Geschichts-Museums erinnern, aber ich erinnere mich, dass ich die Turmspitze des Doms bestaunt habe.
Kristīne Neiburga: Und dann sind Sie später im Leben in dieses Gebäude zurückgekommen, stimmt's?
Vaira Vīķe-Freiberga: 1998 ging ich in Kanada als emeritierte Professorin in den Ruhestand, das war im Juni. Und dann, Ende September, erhielt ich einen unerwarteten Anruf aus Riga. Es war der damalige Ministerpräsident Guntars Krasts: "Wir haben gerade eine Regierungssitzung gehabt und haben das Lettische Institut gegründet." Die Idee war schon einige Zeit in der Luft und jetzt brauchte man einen Direktor, der Fremdsprachen beherrschte, mit der lettischen Kultur vertraut war und dieses Institut auf die Beine stellen konnte.
Zuerst wollte die Regierung 25 000 Lats für eine Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausgegeben. Auf einer halben Seite sollte Lettland als ein schönes und sehenswertes Land, das man besuchen sollte beschrieben werden. Aber dann hatten sie ihre Meinung geändert und hatten sich, anstatt das Geld für eine einmalige Sache auszugeben, für die Gründung des Instituts entschieden. Als ich die Direktorin wurde, lebte ich bei derselben Familie, den Hermanovičs in diesem Gebäude. Ich bezog das Zimmer, in dem ich als Kind Klavier gespielt hatte – das Klavier war nicht mehr da, es gab nur einen kleinen Tisch und ein Sofa, das sich wie ein Taschenmesser öffnen ließ, doch nicht ganz flach.
Dann kam eines Tages der damalige Vorsitzende der Kreativen Gewerkschaften, Jānis Škapars, und die Akademikerin Maija Kūle zu Besuch. Sie sagten mir in einem vertrauten Gespräch, dass Mitglieder der Intelligenz beschlossen hätten, sich für meine Kandidatur für das Amt des Präsidenten einzusetzen. Sie organisierten auch ein Unterstützungsschreiben von Künstlern, Musikern, Intellektuellen und Folklorespezialisten, das in der lettischen Tageszeitung Diena veröffentlicht wurde.
Wenn ich meinen ausländischen Kollegen erzähle, wie ich Präsidentin wurde, lachen sie, denn das normale Verfahren ist, Mitglied einer politischen Partei zu sein, es gibt eine Kampagne, finanzielle Unterstützer usw. Aber ich habe keinen Cent ausgegeben und hatte nur Unterstützung von Intellektuellen und Künstlern. Genau in diesem Gebäude, in diesem Raum, kamen sie zu mir, um ihre Unterstützung offiziell zu verkünden, denn es herrschte ein ernstes Schweigen der Politiker. Sie wagten es schließlich nicht, etwas zu sagen, denn jede Partei hatte bereits ihren eigenen offiziellen Kandidaten gewählt.
Kristīne Neiburga: Wie lange haben Sie in diesem Gebäude gelebt?
Vaira Vīķe-Freiberga: Von Oktober 1998 bis zum 7. Juli 1999. Die Einweihung zur Präsidentin fand schon am 8. Juli statt, danach blieben wir zuerst im Rigaer Schloss und zogen dann später in die Residenz.
Nachdem wir unsere Neugier auf die Verbindung der ehemaligen Präsidentin zu diesem Gebäude gestillt hatten, wollte sie mehr über die Geschichte der Renovierung des Gebäudes hören und wie durch Bemühungen der Familie Neiburgs aus den armseligen Mietwohnungen der Sowjetzeit ein elegantes und modernes Hotel entstanden ist, wo aber auch zahlreiche Hinweise auf die Vergangenheit, einschließlich der schönen Bodenfliesen, die in guter Erinnerung der ehemaligen Präsidentin geblieben waren auch noch heute zu sehen sind.
Am Ende des Besuches widmete die ehemalige Präsidentin dem kleinen Ludwig, der den Namen seines Großvaters geerbt hatte, besondere Aufmerksamkeit. "Die Tatsache, dass Sie aus einer so berühmten Familie stammen, ist ein Privileg", sagte sie. „Privilegien sind eine gute Sache. Privilegien sind aber auch eine Last. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Last verantwortungsvoll und würdevoll tragen.“